Stuttgarter Zeitung vom 06.11.2010
Ludwigsburg Die evangelische Jugendhilfe Hochdorf beschäftigt sich mit jungen Leuten, die durch ihr Fehlverhalten auffällig geworden sind. Vom Kreis gibt es dafür jährlich 10000 Euro. Von Ralf Recklies
Stellwerk. Der Name des im Mai von der evangelischen Jugendhilfe in Hochdorf gestarteten Projektes ist Programm. "Wir wollen Weichen stellen, Weichen für das Leben und eine gute Entwicklung in der Sexualität", sagt Michael Rütsche, der Leiter der Ludwigsburger Fachstelle in der Wilhelmstraße 54. Ein klar definiertes Klientel soll über das Projekt erreicht werden: Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die Regeln verletzt und sexuelle Grenzen überschritten haben. "Dabei muss es sich nicht immer um strafrechtlich relevante Verfehlungen handeln", sagt Claudia Obele, die Vorstandsvorsitzende der evangelischen Jugendhilfe im Landkreis Ludwigsburg.
Es sei aber wichtig, den jugendlichen Tätern frühzeitig zu zeigen, dass ihr Verhalten falsch ist. "Viele erwachsene Sexualstraftäter sind bereits in jungen Jahren auffällig gewesen", sagt Obele. Für sie steht daher auch außer Frage: "Täterarbeit ist der beste Opferschutz." Das in der Gesellschaft oft bagatellisierte Fehlverhalten gelte es zu reflektieren, um auch die Empfindungen der Opfer verstehen zu können. "Den Tätern fehlt meist jede Empathie für das Opfer", bedauert Obele.
Der Ludwigsburger Kreistag hat sich im vergangenen Jahr davon überzeugen lassen, dass nicht nur die Betreuung der Opfer von sexuellen Übergriffen wichtig ist. Auch die Notwendigkeit der Täterarbeit wurde erkannt. Für zunächst zwei Jahre wurden Zuschüsse in Höhe von jährlich 10 000 Euro bewilligt. Kein Betrag, um große Sprünge zu machen. Obele und Rütsche sind trotzdem froh, dass das Geld zur Verfügung gestellt wurde. Vorerst wurde damit eine Zehn-Prozent-Stelle geschaffen. "Das sind vier Stunden pro Woche", rechnet Rütsche vor.
Acht Fälle habe man seit Mai mit den noch sehr bescheidenen Ressourcen bearbeiten können. "Fünf davon haben wir mit Erfolg abgeschlossen, drei sind fast beendet. Auch hier deutet aber alles auf Erfolg", sagt er. Bedauerlich sei, dass bei akuten Fällen nicht schnell reagiert werden könne. "Bis Februar sind unsere Kapazitäten voll ausgereizt", auch eine Warteliste gebe es schon.
Laut Rütsche wäre es sinnvoll, eine volle Personalstelle zu haben, "die wir auf einen Mann und eine Frau verteilen könnten". Dann wäre auch eine Gruppenarbeit und eine geschlechterspezifische Beratung möglich. Auch wenn das Gros der Klienten erfahrungsgemäß Jungen sind.
Beratungsbedarf für jährlich mindestens 70 bis 80 Fälle gibt es nach Schätzung der Fachleute im Kreis. Diese basiert auf Erfahrungen des Rems-Murr-Kreises. Dort wird seit 1997 in der Anlaufstelle gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch mit den Tätern gearbeitet.
Die Jugendlichen werden in einer Art Schocktherapie mit ihren Taten konfrontiert. Dabei wird die Tat jeweils en detail rekonstruiert, das Warum des Verhaltens ergründet und als Ergebnis eine Alternative zu dem bestehenden Verhaltensmuster entwickelt. Wenn ein Mädchen beispielsweise mit einem Jungen zum Rauchen in ein Gebüsch gehe, sei dies keine Einladung zu einer sexuellen Handlung. Dies müsse klar und akzeptiert werden.
Die Fälle, die den Stellwerk-Fachberater Stefan Vaihinger bisher beschäftigt haben, reichen vom Grapschen bis zu exhibitionistischen Handlungen, die der betroffene Jugendliche anfangs als Versehen dargestellt habe. "Mit der schlimmsten Form des Missbrauchs, der Vergewaltigung, sind wir noch nicht konfrontiert worden", sagt Obele. Auch dies sei aber wohl nur ein Frage der Zeit.
Das Ergebnis ihrer Arbeit will die Fachstelle dem Kreistag im Herbst 2011 vorstellen. Mit der Hoffnung, danach mit einem höheren Zuschuss personell aufstocken zu können und noch mehr Weichen für junge Menschen positiv zu stellen, die ihre Grenzen bisher nicht kennen.