Ludwigsburger Kreiszeitung vom 13. September 2014
Sexuelle Gewalt bei Minderjährigen
TÄTERBERATUNG
Seit einigen Jahren betreut die Beratungsstelle Stellwerk sexuell grenzüberschreitende Minderjährige. Das Pädagogen-Team möchte ihnen den richtigen Umgang mit Sexualität beibringen – auch um zukünftige Opfer zu vermeiden. (Von Martina Kütterer)
Enur (Name geändert) war 16 Jahre alt, als es passierte. Zusammen mit Freunden nötigte er ein Mädchen sexuell und beging damit eine schwere Straftat. Es kam zur Anzeige. Während der Gerichtsverhandlung befand er sich in einer schwierigen Situation: Die Zeitarbeitsfirma, für die er arbeitete, kündigte ihm und gleichzeitig forderte der Anwalt des Opfers eine hohe Summe an Schmerzensgeld. Von seiner Familie erhielt er keine Unterstützung. Das Gericht forderte ihn auf, die Beratungsstelle Stellwerk aufzusuchen.
Jugendliche wie Enur kommen nicht freiwillig zu der kreisweiten Einrichtung, die es seit vier Jahren gibt. Die Polizei und andere öffentliche Stellen zwangsvermitteln die Täter. Seit der Gründung konnten die pädagogischen Fachkräfte Michael Rütsche und Stefan Vaihinger mehr als 88 junge Menschen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten beraten und begleiten. Ihre Zielgruppe ist zwischen zwölf und 18 Jahre alt und zu 98 Prozent männlich. Bei gewalttätigen Mädchen dürfte die Dunkelziffer viel höher liegen. Außerdem kommt es auch unter Jungs zu Übergriffen.
JEDER DENKT ZUERST AN DIE OPFER, TÄTER WILL MAN EHER BESTRAFEN
Mit ihrem Spezialwissen schließen die beiden Sozialarbeiter eine wichtige Lücke der Jugendberatung. Nicht nur für betroffene Jugendliche und deren Familien, sondern auch für Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter ist das Team eine wichtige Auskunftstelle. Dabei denken viele bei sexueller Gewalt zunächst an das Opfer. Das ist auch richtig. Es fällt schwer, sich den Tätern zuzuwenden. „Man will sie für das, was sie getan haben, eher bestrafen“, weiß Vorstandsvorsitzende Claudia Obele der evangelischen Jugendhilfe Hochdorf im Kreis Ludwigsburg, der Trägereinrichtung der Fachstelle Stellwerk. Aber auch Jungs wie Enur haben das Recht auf Hilfe, schon deshalb, um weitere Opfer zu vermeiden. Es ist zudem die einzige Chance, etwas zu ändern. Auch Zahlen belegen: Zwei Drittel aller Erwachsener sexueller Straftäter zeigten bereits Tendenzen in der Jugend.
Wenn Minderjährige zu sexuellen Grenzüberschreitungen neigen, gibt es viele Gründe dafür: zum Beispiel Fehlentscheidungen, Störungen und Unwissenheit. Während der Pubertät probieren sich viele Teenager aus, bei manchen kommt es dabei zu Fehlentwicklungen.
„Wir sprechen dann von sexuellem Fehlverhalten“, erklärt Stellwerk-Fachleiter Rütsche. Auffällige Jugendliche haben kein Selbstwertgefühl und sind oft sozial nicht integriert. Sie verstecken sich in einer fiktiven Welt der Pornografie. Ein Sexualisiertes Bild kann durch Medien, insbesondere durch neue Medien, oder durch die Familie vermittelt werden. „In vielen Fällen versuchen die Betroffenen auch, über sexualisierte Übergriffe Anerkennung zu bekommen. Es geht um Machtgefühle“, erklärt Rütsche.
Das Beratungsteam verwendet dennoch ungern den Begriff „Täter“. Dieser kommt aus dem Strafrecht und lässt keinen Raum für Veränderung. Doch genau das ist das Ziel der Fachstelle. Zudem will man deren Handlungen nicht als „Missbrauch“ kriminalisieren. Daher sprechen die Fachleute von grenzverletzenden Übergriffen. Anfällige Jugendliche leiden häufig an Wahrnehmungsproblemen. Sie verstehen ihre Tat nicht. Deshalb machen die Sozialarbeiter den Moment ausfindig, an dem die Situation kippte. „Man muss das Bewusstsein bei Ihnen schaffen und zeigen, was es beim Gegenüber ausgelöst hat“, erklärt Vaihinger die Strategie.
DIE BERATER VERWENDEN UNGERN DEN TÄTER-BEGRIFF
Die Beratung ist trotzdem kein Schonprogramm. Es geht um Konfrontation und darum, Verantwortung für das zu übernehmen, was geschehen ist. Bei dem Rückfall-Präventionsprogramm schauen die Berater außerdem auf die Biografie des Jugendlichen, um zu begreifen, warum dieser die Tat nicht als Tat begreift. Der Weg bis zum Missbrauch wird nachverfolgt und die Folgen der sexuellen Gewalt für das Opfer klargemacht. Anschließend versucht das Team dem Täter beizubringen, was normal ist und Verhaltensalternativen aufzuzeigen.
Pro Person finden zehn Beratungstermine statt. Was danach passiert, wissen die Berater nicht. Bisher teilen sich die Fachkräfte eine 40-Prozent-Stelle, sie hoffen jedoch auf eine Anhebung. „Unser Wunsch ist es, personell so aufgestellt zu sein, dass wir die Heranwachsenden längerfristig betreuen können“, so Vaihinger. Dann wüssten sie, was aus Betroffenen wie Enur wird. Dem 18-Jährigen gelang es, sich in der Beratung seiner Lebenssituation und der Schwere des Übergriffs auf das Mädchen bewusst zu werden. Er begann, Verantwortung zu übernehmen. Seine Kumpels verurteilte das Gericht als Haupttäter, Enur kam als Mitläufer mit einer Geldstrafe davon. Folglich brach er den Kontakt zu den Mittätern nach und nach ab und beichtete den Vorfall seiner neuen Freundin. Es gelang ihm, eine Arbeitsstelle zu finden. Berater Rütsche ist sich sicher: „Der Junge hat die Kehrtwende geschafft.“
STELLWERK
Der richtige Umgang mit Sexualität
Seit Mai 2010 gibt es die Fachstelle in der Wilhelmstraße 54. Träger ist der Verein Hochdorf (Evangelische Jugendhilfe des Landkreises). In drei Jahren begleiteten die Pädagogen 88 Minderjährige mit grenzverletzendem Verhalten. Ziel ist, dass die Heranwachsenden einen grenzwahrenden Umgang mit Sexualität erlernen.
Kontakt: Telefonisch ist das Stellwerk-Team unter (0 71 41) 9 91 93 40 oder über Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zu erreichen. Weitere Infos unter www.jugendhilfe-hochdorf.de (küt)