Stuttgarter Zeitung vom 08. Juli 2014
Ludwigsburg: Die Beratungsstelle Stellwerk hilft Jugendlichen, nach einer Tat nicht wieder sexuell übergriffig zu werden. Von Hilke Lorenz
Manchmal wählt Stefan Vaihinger einen sehr anschaulichen Weg, um den Jugendlichen, die in die Beratungsstelle Stellwerk kommen, zu verdeutlichen, welch Folgen ihre Tat hat.
Dann gibt er ihnen ein DIN-A4-Blatt, bittet sie, es zu zerreißen – und es dann mit Klebstoff und Tesafilm wieder zusammenzusetzen. Doch egal, wie die Heranwachsenden sich anstellen, das Blatt wird in keinem Fall wieder wie vorher aussehen. Genauso wenig ist das Verhältnis von Opfer zu Täter nach einem sexuellen Übergriff wieder zu kitten, als sei nichts geschehen. Dies zu erkennen, ist einer der Schritte, den Jugendlichen bei Stellwerk gehen sollen.
Das Ziel des Angebots: sie sollen ihre Einstellung zu Sexualität und Gewalt reflektieren und ihr Verhalten dauerhaft ändern. Da könne es auch sehr hilfreich sein, sagt der Stellwerk-Leiter Michael Rütsche, zu fragen, was würdest du machen, wenn das jemand mit deiner Schwester gemacht hätte? Auch so können Einsichten wachsen. Nicht alle sehen sofort ein, dass sie Unrechtes getan haben. Ausflüchte wie, das Opfer habe sich doch nicht gewehrt, gehören hier zu den üblichen Erklärungsversuchen.
Niemand bei Stellwerk benutz gern den Begriff Täter. Man hat sich auf die umständliche Formulierung von „sexuell grenzverletzenden Jugendlichen“ geeinigt. Ein Wohlfühlprogramm wird in den Räumen in der Wilhelmstraße 54 dennoch nicht gefahren. In einem Sieben-Punkte-Präventionskatalog – von der Bestandsaufnahme bis zu Verhaltensalternativen – müssen sich die Klienten ihrem Tun und ihrem bisherigen Leben über den Zeitraum von mindestens einem halben Jahr stellen.
Diese Arbeit mit ihnen solle weitere Opfer vermeiden, ohne die Arbeit mit den Opfern sexueller Gewalt in Abrede zu stellen, sagt Claudia Obele, die Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Jugendhilfe Hochdorf im Kreis Ludwigsburg. „Auch diese Jugendlichen haben ein Recht auf Hilfe und Förderung“, sagt Obele. Der Zulauf veranschaulicht die Notwendigkeit. 88 Jugendliche hat Stellwerk in den Jahren seit seiner Gründung mit zwei Fachkräften, die sich eine 40-Prozent-Stelle teilen, betreut und begleitet. Die wenigsten kommen zunächst freiwillig. Sie kommen über die Jugendgerichtshilfe, die Eltern oder auch durch Vermittlung der Polizei. Der Landkreis unterstützt die Arbeit finanziell.
In der Regel besteht die Klientel Jungs zwischen zwölf und 18 Jahren, Jungs wie etwa der 13-jährige Daniel (alle Namen geändert), der mit seinen zwei jüngeren Geschwistern erst Rollenspiel machte, in denen sie nachspielten, wie Kinder gezeugt werden und sich dann irgendwann nackt auf sein neunjährige Schwester Melissa legte und ihr mit Gewalt drohte, der Mutter davon ja nichts zu erzählen. Melissa offenbarte sich der Schulsozialarbeiterin. Als Folge der Begleitung hat Daniel begriffen, dass sein Handeln nicht in Ordnung war. Seine Schwester ist innerhalb der Wohnung in ein anderes Zimmer gezogen. Daniel betritt es nicht. So die Abmachung.
Präventionsarbeit: Die Fachstelle will durch frühzeitige Intervention verhindern, dass sexuell grenzverletzende Jugendliche rückfällig werden. Sie arbeitet auch mit der Beratungseinrichtung Silberdistel zusammen, die Opfer betreut. Ein Drittel der Fälle geschieht in den Familien.
Zielgruppe: Begleitet werden Jugendlichen und ihre Familien. Hilfe finden aber auch Lehrer oder andere Menschen, die mit den Jugendlichen unmittelbar zu tun haben. Informationen sind bei der Fachstelle Stellwerk unter der Telefonnummer 07141/991 934 0 erhältlich.