Zukunft geben - Fliegen lernenZukunft geben - Fliegen lernen

Stuttgarter Zeitung vom 16. Mai 2012

Trend Im Kreis geht es so rund, dass einem schwindelig wird. Diese Woche: es grassiert die neue Fürsorglichkeit.

Alles wird gut. Denn mit Macht drängt ein Trend nach Ludwigsburg: die neue Fürsorglichkeit. In Stuttgart hat sie sich längst buchstäblich Bahn gebrochen. Aus lauer Sorge, dass die Bürger dort dereinst, wenn die Straßen vollends verstopft sind, nicht mehr hoch zum Flughafen oder bequem zum Shoppen nach München kommen könnten, riskiert man Bankrott und Bürgerkrieg, um einen neuen Bahnhof zu bauen.

Aber auch im Kreis Ludwigsburg keimt sie, die neue Fürsorglichkeit, und treibt aus ersten Knospen Blüten, um mit dem Bild in der Jahreszeit zu bleiben. Als Trendsetter erweist sich die Evangelische Jugendhilfe in Remseck-Hochdorf. Dort ist die schöne neue Arbeitswelt ausgebrochen. Man ist nett zueinander, sogar der Chef. Wie eine Mutter sorgt er sich um das werte Befinden jedes Einzelnen. Er ermahnt seine Leute, ja keine Pause zu vergessen und rechtzeitig Feierabend zu machen. Das sei kein Märchen, das sei wirklich so, versichern die Beschäftigten dem ungläubig Staunenden.
Damit der Stress nicht zu viel wird, hat man ihnen Stressbarometer ausgeteilt. Er reicht von Grün bis Rot und hat eine Skala von eins bis zehn. Wenn der Zeiger gegen Rot tendiert, kommen die Kollegen und betütteln den Gestressten, und der Chef hirnt angestrengt, wie er seinem leidenden Untergebenen etwas Gutes tun kann.

Natürlich mäkeln die notorischen Bruddler, solcherlei Gutmenschentum sei nicht getrieben von der Sorge um das Wohl der Mitarbeiter, sondern eine besonders perfide Methode, die Lust an der Arbeit zu wecken, die im Schwaben naturgemäß schlummert. Sie warnen, dass die Arbeitsfreude, einmal aufgewacht, unweigerlich dazu führt, dass geschafft wird bis zum Umfallen. Doch das sind alles misslaunigen Sozis, die auch im Paradies noch einen Betriebsrat gründen und von Gott die 20-Stunden-Woche fordern würden.

Apropos Gott: von der evangelischen Jugendhilfe kann man ja erwarten, dass sie sich aus dem Geiste Jesu heraus um die Menschen kümmert. Aber von der Kreissparkasse? Doch auch sie ist nah am Puls der Zeit und erweist sich als ausgesprochen besorgt um das Wohl ihrer Gäste. Dabei ist sie umsichtig bis ins kleinste Detail. Auf der Einladung zur Jubiläumsveranstaltung aus Anlass ihres 160-jährigen Bestehens weist sie die Gäste darauf hin, dass deren Auto für Ludwigsburg eine Feinstaubplakette benötigt. Nicht dass unter den Besuchern viele zu erwarten wären, die mit einer alten Rostlaube ohne grüne Plakette vorfahren, und der wertwolle Oldtimer, falls man ihn für diesen Termin aus der Garage holt, hat eine Ausnahmegenehmigung. Doch die gute Absicht zählt.

Noch fürsorglicher als bei der Sparkasse und der Jugendhilfe zusammen geht es in Freiberg zu. Dort kann man besichtigen, wohin die neue Fürsorglichkeit im Endstadium führt: Man hat dort fürsorglicherweise Geld beiseitegelegt, um Witwen und Waisen und anderen Bedürftigen zu helfen. Doch siehe da: man ist dort schon fürsorglich, dass es gar keine Armen mehr gibt. Sie Stadt wird ihr Almosen nicht los. Dort ist schon alles gut. (bur)

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