Zukunft geben - Fliegen lernenZukunft geben - Fliegen lernen

Marbacher Zeitung vom 17. Dezember 2016

Von Christian Kempf. Babucarr Briscoe ist ein leidenschaftlicher Fußballer, der einmal als Flugbegleiter arbeiten möchte. Habibullah Ahmadi schwankt noch, ob er lieber eine Karriere als Verkäufer oder als Polsterer einschlagen soll. Sicher weiß er aber eines: Er möchte baldmöglichst auf eigenen Beinen stehen, sucht deshalb eine Wohnung. Die beiden haben also Träume, Pläne und Hobbys wie jeder junge Mensch in ihrem Alter. Und doch sind sind sie keine gewöhnlichen Teenager.

Denn sie haben eine regelrechte Odyssee hinter sich, sind ohne ihre Familien aus ihren Herkunftsländern über tausende Kilometer nach Deutschland geflohen. Nun haben die beiden einen sicheren Hafen gefunden: Der Gambier und der Afghane leben zusammen mit drei weiteren so genannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus Gambia, dem Senegal und Somalia in einer WG der Jugendhilfe Hochdorf. Und dort fühlen sich die beiden ausgesprochen wohl – auch wenn sie ihre Familien vermissen. Wobei die Jugendhilfe das Teenager-Quintett natürlich nicht einfach seinem Schicksal überlässt. Melanie Hellebrand, Florian Becher und eine dritte Kollegin kümmern sich um die Jungs. Das Trio steht den Flüchtlingen von morgens bis abends mit Rat und Tat zur Seite. „Nachts gibt es zudem eine Rufbereitschaft. Aber die ist hier noch nicht in Anspruch genommen worden“, erzählt Florian Becher. Unterstützung erhalten die Heranwachsenden beispielsweise im Umgang mit der Bürokratie, bei den Hausaufgaben, bei der Suche nach einem Schulplatz und bei Arztbesuchen, sagt Claudia Obele, die Vorstandsvorsitzende der Jugendhilfe Hochdorf. „Das ist aber keine Rundumversorgung“, betont Melanie Hellebrand. Denn die Jungs sollen darauf vorbereitet werden, alleine durchs Leben zu kommen. So sind Melanie Hellebrand und ihre Kollegen auch keine Mädchen für alles, die den Jugendlichen Frühstück zubereiten oder ihnen hinterherräumen. Wobei das auch nicht nötig scheint. Die Gemeinschaftsküche ist blitzblank geputzt, vom Boden der Zimmer könnte man fast essen. Babucarr und Habibullah sind auch sehr höflich und wirken nicht so, als würden die Betreuer viele Scherereien mit ihnen haben. Gleichwohl gebe es hin und wieder Stress in der WG, sagt Melanie Hellebrand. Aber dabei handele es sich um handelsübliche Konflikte, die unter anderen Jugendlichen auch zu beobachten seien. „Alles ist okay mit den Jungs. Alles ist nett“, stellt der 17-jährige Afghane Habibullah fest, der schon gut Deutsch spricht. Das lernt er wie sein 16-jähriger Kumpel Babucarr aus Gambia in einer Vorbereitungsklasse an einer Ludwigsburger Berufsschule. Die Jugendhilfe Hochdorf kümmert sich um insgesamt 20 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Der Standort in der Ludwig-Müller-Straße in Großbottwar sei der größte, sagt Claudia Obele. Das Haus wurde von privater Seite angemietet und im Frühsommer bezogen. Alle Kids haben ein eigenes Zimmer und einen Internetzugang, der aber an bestimmte Zeiten gekoppelt ist, damit die Jungs vor Schultagen nicht nachts im Netz unterwegs sind. Als Minderjährige erhalten sie ein Taschengeld von 48 Euro sowie 140 Euro pro Monat für Lebensmittel. Dazu kommen Pauschalbeträge für Kleidung und Hygieneartikel. Alle zwei Wochen trifft sich die WG zu einer Besprechung, in der beispielsweise Putzdienste festgezurrt werden. „Man kann da auch Sachen ansprechen, die nicht gut funktionieren“, sagt Melanie Hellebrand. Zudem gibt es feste Regeln in der Wohngemeinschaft. Rauchen und Alkohol auf den Zimmern sind tabu. Wer unter 18 Jahre alt ist, muss in der Regel um 22 Uhr daheim sein. Selbst an den Winterdienst wurde gedacht. Den übernimmt Babucarr – der dafür mit einem Preis belohnt wird. Wenn demnächst einmal ein schüchterner junger Mann mit dunkler Hautfarbe Schnee schnippt, müssen sich die Nachbarn also nicht wundern. Wobei die meisten Anrainer über diese ganz spezielle WG ohnehin längst Bescheid wissen dürften. Denn gleich zu Beginn hat man eine Einweihungsparty für die Anwohner veranstaltet. „Die Resonanz war gut“, sagt Melanie Hellebrand. Doch nicht alle Deutschen empfangen die jungen Flüchtlinge mit offenen Armen. Wenn Bubacarr nach einem freien Sitzplatz im Bus Ausschau hält, merkt er ab und zu, wie der eine oder andere die Nase rümpft. „Manche Leute haben offenbar Angst vor Ausländern“, sagt Habibullah, der zugleich viele deutsche Freunde hat – und festgestellt hat, dass es auch unter den Ausländern solche und solche gibt. Und er und sein Kumpel sind in ihrer neuen Heimat auch glücklich. „Wir wollen hier bleiben“, sind sich die beiden Jungs einig.

2016 12 17 Marbacher Zeitung Allein im Land

 

Habibullah (links) und Babucarr arbeiten am Laptop. Foto: Werner Kuhnle Großbottwar -

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