Zukunft geben - Fliegen lernenZukunft geben - Fliegen lernen

Ludwigsburger Kreiszeitung vom 11. Dezember 2015

60 Jahre Jugendhilfe Hochdorf: Zwischen Aufarbeitung der Vergangenheit und Blick in die Zukunft (von Martina Kütterer)

Wenn Uwe Breitling über seine Vergangenheit als Heimkind spricht, wundern sich seine Kollegen. "Wenn sie das mitbekommen sind sie überrascht, was aus mir geworden ist", sagt Breitling. Von 1963 bis 1975 lebte er im Hochdorfer Heim. Heute arbeitete der 55-jährige als Krankenpfleger, ist verheiratet und hat drei Kinder. Nicht bei allen, die mit ihm im Heim waren, verlief das Leben so positiv. "Einige leben heute nicht mehr", sagt Breitling.

"So eine Einrichtung hat eine belastende Vergangenheit", weiß auch Claudia Obele, Vorstandvorsitzende der Evangelischen Jugendhilfe Hochdorf. Deshalb wurde die Heimgeschichte zum 60-jährigen Bestehen der Einrichtung aufgearbeitet.

In den letzten Kriegsjahren stellte Pfarrer Schlipp im Schulweg 2 sein Gemeindehaus zur Verfügung, um Kinder der Stuttgarter Olgakrippe unterzubringen. In der Nachkriegszeit folgten weitere Kinder und Jugendliche, die in den Kriegswirren ihre Familien verloren hatten. 1955 wurde schließlich der Trägerverein gegründet. "Die Wiege des Vereins ist Hochdorf", sagt Obele. Mittlerweile ist die Jugendhilfe in 16 Stationen im Kreis aktiv.

Zum 60-jährigen Jubiläum hat der Verein viele kreative Aktionen umgesetzt. Außerdem arbeitete der Geschichtsstudent Bastian Loibl der Heidelberger Universität die Heimgeschichte anhand der Akten auf. "Gespannt war ich schon was dabei herauskommt", sagt Obele. Klar sei gewesen, dass auch einige Dinge ans Licht kommen würden, die nicht in Ordnung waren. Das Leben der Heimkinder in den 50er und 60er Jahren war nicht einfach - auch in Hochdorf nicht. Sie litten unter der Menge der Kinder, unter den jungen Bewohnern kam es zu Gewalt. Auch Fälle, in denen Betreuer gewalttätig wurden und Kinder missbrauchten, seien vorgekommen. "Als vor 15 Jahren die Missbrauchsdebatte losging, waren wir die Ersten, die Schutzkonzepte erarbeitet haben", sagt Obele. Seit sechs Jahren findet zudem alle zwei Jahre ein Ehemaligen-Treffen statt. Auch dort sprachen die Teilnehmer offen über positive wie auch negative Erfahrungen.
In den Akten fehle die Gewalt gänzlich, sagt der Student Bastian Loibl. "Detailliert wird darin beschrieben, wenn Mütter ihren Kindern Äpfle mitbrachten. Über Strafen schweigen sich die Akten aus", so Loibl. In den 50er und 60er Jahren hatte die Gesellschaft enorme Vorurteile gegenüber Heimkindern. Dir Gründe, warum Kinder ins Heim kamen, waren unterschiedlich. Bei Uwe Breitling war die Mutter alleinerziehend, musste arbeiten und konnte ihn und seine Geschwister nicht versorgen. Er erlebte das Heim in den 60er Jahren wie einen Staat im Staat- die Kinder seien abgeschottet worden. "Wir waren zu zehn im Zimmer", sagt er. Jungen und Mädchen wurden nicht getrennt. "Die Erzieher kümmerten sich um das Notwendigste. Der Einzelne blieb auf der Strecke", so Breitling.

Ab den 70ern änderte sich das Heimleben. Vor allem in den 90er Jahren erfuhr die Einrichtung in Hochdorf einen enormen Ausbau sowie eine Ausdifferenzierung der Tätigkeitsfelder - die ambulante und flexible Hilfe kam hinzu. Auch Breitling sagt: "Man muss immer beleuchten, in welchem Zeitraum man dort war."

Lars Meinhardt wohnte bis vor kurzem in der Hochdorfer Wohngruppe. Jetzt lebt er in einer sogenannten Verselbständigungswohnung, macht sein FSJ und strebt danach eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher an. "Ich habe mich in Hochdorf schnell wohl gefühlt", sagt der 17-jährige. Nach dem Tod seiner Mutter vor fünf Jahren kam er auf Umwege ins Heim. Auch hätten ihn die Betreuer bei allen Schwierigkeiten zum Beispiel in der Schule unterstützt. "Viele Mitschüler hatten Vorurteile gegenüber mir als Heimkind", erzählt er vom Schulalltag. "Man gewöhnt sich daran. Wenn man sich im Heim wohlfühlt, fällt es einem nicht schwer, darüber zu reden - und dazu zu stehen".


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Zum 60-jährigen Jubiläum der Jugendhilfe Hochdrof fanden in diesem Jahr viele kreative Aktionen statt - wie im Sommer, als die Garagen in der Geschäftsstelle in Hochdorf bemalt wurden. (Foto: Holm Wolschendorf)

Fakten:
220 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen null und 24 Jahren betreut und fördert das diakonische Jugendhilfeunternehmen mit 90 Mitarbeitern. Mittlerweile ist de Verein an zwei Standorten in Hochdorf sowie 147 Dienststellen in Bietigheim-Bissingen, Sachsenheim, Besigheim, Kornwestheim, Ludwigsburg und Großbottwar tätig. Die Angebote werden vom Landkreis finanziert und reichen von Wohngruppen bis zur Schulsozialarbeit. (red)

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